Das Dorf Vetschau

Das Dorf Vetschau

Peter Johannes Droste

 

In einer Art Dornröschenschlaf liegt im Norden von Aachen landwirtschaftlich geprägte Dorf Vetschau. Abgesehen vom Berufs- und Pendelverkehr und der bisweilen bedrohlich nahen Bundesautobahn herrscht  dort ländliche Stille.  Obwohl es nur noch wenige Kühe und Hähne gibt, bestimmt der Zyklus von Saat und Ernte, Weidegang und Winterruhe das dörfliche Leben. Es sind die uralten Höfe, die Getreidefelder, die Wiesen und die weidenden Pferde, die immer noch das Bild dominieren. Die meiste Zeit des Tages gehören den Traktoren und den Reitern die beiden Dorfstraßen und Wirtschaftswege.

 

Kartenausschnitt: W. Hollatz, Aachener Reich, 1978, S. 16
Kartenausschnitt: W. Hollatz, Aachener Reich, 1978, S. 16

 

Vetschau ist ein Grenzort: Grenzzipfel des ehemaligen  Aachener und des Deutschen Reiches, Dreiländereck der Frühen Neuzeit, zerschnitten durch eine grenzüberschreitende Eisenbahntrasse des 19. Jahrhunderts und eine Autobahn, eine Zollstation und den allerorten sichtbaren Westwall. Erst seit einigen Jahren sind die mo-dernen Windräder auf dem Vetschauer Berg die weithin sichtbaren Wahrzeichen der uralten Siedlung.

 

Die Zahl der parkenden PKW an der Dorfstraße sind zwar ein Beweis dafür, dass die Vetschauer Bevölkerung zugenommen hat, aber trotz der zugezogenen Neubürger, die entweder die Ruhe des Ortes oder die Nä-he zur Aachener Innenstadt zu lieben scheinen, hat sich seit der Römer-zeit keine nennenswerte Infrastruktur entwickelt. Die Tendenz dazu scheint sogar eher rückläufig.  Eine eigene Kirchengemeinde war nie entstanden, weil das Dorf seit Menschengedenken zur Pfarrei St. Lau-rentius gehört, von den einstmaligen Dorfkneipen ist keine mehr übrig. Die Buslinie verkehrt immer seltener. Ein Briefkasten, ein öffentlicher Fernsprecher, zwei Schaukästen und ein Zigarettenautomat sind die ein-zigen Boten einer öffentlichen Infrastruktur. Wie eine Ironie des Schick-sals muss es klingen, dass Vetschau erst nach der Stilllegung der Eisen-bahnlinie einen  (Museums-) Bahnhof bekommen hat.

 

Dennoch hat die bäuerliche Siedlung eine lange Geschichte. Spätestens mit dem Bau der Römerstraße zwischen Aachen und Heerlen, die das Dorf Vetschau unmittelbar berührte, muss die dortige Siedlung entstan-den sein. Grab- und Hausfunde belegen dies[1]. Ob die überlieferte Schla-cht bei Aduacta etwas mit Vetschau zu tun hat, wird wohl nie zu klären sein[2]. Viele Orte streiten um die „Ehre“ mit diesem Schlachtort identisch zu sein. Eine derart große Schlacht dürfte allerdings archäologisch deut-lich nachweisbare Spuren hinterlassen haben.

 

Abb.: Der große Niersteiner Hof um 1912  

Clemen vermutete bereits 1912, dass Vetschau „ein Nebenhof der Aachener Pfalz“[3] war. Wahrscheinlich hat Vetschau zur Versorgung der ehemaligen Pfalzanlage beigetragen. Möglicherweise wurde von dort Vieh zur sogenannten „bos aquensis“ (Herde von Aachen), die der Fleischversorgung der Pfalz diente, beigesteuert. Die schriftlichen Quellen hingegen überliefern Hofstellen in Vetschau, die sich spätestens seit dem Hochmittel-alter in Kirchenbesitz befanden.

 

Die Erträge der Vetschauer Höfe dienten dem Marienstift und dem Klo-ster Burtscheid als Nahrungsgrundlage. Die derzeit noch sichtbaren, kümmerlichen Reste des alten Pfalzhofes, der sogenannten Vetschauer Burg, die den Abrissversuch von 1999 überstanden, gehören zu einer Hofanlage aus dem 16. Jahrhundert, die ein Nachfolger des Nebenhofes der Kaiserpfalz ist.

Während es im Aachener Westen, Süden und Osten hinreichende Jagd-gründe gab, war die Anlieferung von Getreide für eine Winterpfalz unab-dingbar. Ohne Getreide waren Troß und v.a. Reit- und Zugtiere des königlichen Hofes im Winter nicht zu versorgen; an ein Überwintern wäre trotz warmer Quellen und ausreichend Wildbret nicht zu denken gewesen. Nachgewiesen wurden umfangreiche Getreidelieferungen aus der fruchtbaren Jülicher Börde und von der klimatisch begünstigten Echtzer Lößplatte bei Düren, die seit der Spätantike agrarisch genutzt wurden. Seit der Zerstörung der Dürener Pfalz durch die Normannen hatte das Marienstift als überlebendes Institut der königlichen Zentralgewalt  die dortigen Rechte und Einkünfte des Königs weitgehend übernommen und holte nun Getreide, das in den Mühlen des Marienstif-tes verarbeitet wurde, über die Rur und den alten Heerweg nach Aach-en[5]. Im Zuge der sogenannten „Vergetreidung“ des Mittelalters (zuneh-mende Getreideproduktion ermöglichte mehr Tieren und damit auch mehr Menschen das Überleben und provozierte dadurch gleichzeitig ei-nen größeren Getreidebedarf), die eine Rodungsbewegung zur Gewin-nung von Ackerland hervorrief, muss der Wert der bei Vetschau nach Norden zu beginnenden Bördelandschaft  erkannt worden sein. Auch hier gibt es fruchtbaren Lößboden, der im Zuge der endenden Eiszeit vor dem Vetschauer Berg, dem östlichsten Hügel der Limburger Kreidetafel, abgelagert wurde.

In Vetschau wird spätestens seit dem Hochmittelalter Getreide im großen Stil angebaut, das für die Klöster und die Reichsstadt Aachen von herausragender Bedeutung war[6], wie die Urkundenüberlieferung beweist. In dieser Zeit entstehen z.B. auch die Fronrather Höfe, nördlich von Horbach, deren Namen auf diese Rodungen  (rath) hinweisen.

 

Arbeit in der Feldscheune in Vetschau. Ein Traktor der Lohndrescherei Johann Hendriks aus Huf treibt den großen Dreschkasten an, während ein Helfer im Hintergrund Getreidegarben nachlegt.

Als eine der  Kornkammern Aachens fristete Vetschau ein vom städtischen Leben der Stadt Aachen wenig beachtetes Schattendasein. Die territoriale Entwicklung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit sorgte dafür, dass Vetschau zur Nordwestspitze des Aachener Reiches wurde. Im Westen und Norden entstand nach dem Westfälischen Frie-den (1648), durch den die später niederländischen Territorien aus dem Reichsverband ausschieden, ausländisches Territorium. Im Osten grenz-ten das Schönauer Gebiet und herzoglich- jülichsche Territorien an. Hier gab es ein Dreiländereck, wie der Grenzstein im grenzüberschreitenden Gewerbepark „Avantis“ beweist. An dieser Isolation von Vetschau änder-te sich weder während der Franzosenzeit etwas, als das Alte- und damit auch das Aachener Reich aufgelöst wurde, noch in der Preußischen Zeit, als die Stadt durch die Ansiedlung der Eisenbahn und der Technischen Hochschule als Industrie- und Hochschulstandort einen neuen Aufschwung nahm.

 

Ausschnitt aus dem Katasterplan von Laurensberg von 1884 

 

 

 

Während der ausgreifende Steinkohlebergbau des Wurmreviers dafür sorgte, dass auch Tagelöhner und Bergleute den bis dato rein agrarisch geprägten Aachener Norden bevölkerten, ermöglichte die Eisenbahn den Transport von Massengütern, was selbstredend auch Getreide betraf. Dadurch wurde Aachen unabhängig vom einheimischen Getreide und die Landwirte stiegen stärker auf den profitablen Zuckerrübenanbau um, der seit der Entwicklung der industriellen Zuckerproduktion in Schlesien, auch das Rheinland ergriff und seither prägt. 

 

 

Mittlere Laurensberger Straße, Nord/Süd-Sicht vor dem Zweiten Weltkrieg, Foto: H. Uebach

 

Der Steinkohlebergbau des Wurmreviers, der im niederländischen Lim-burg und im Aachener Norden sowohl die Landschaft als auch die Bevöl-kerungsstruktur und das kulturelle Leben  lange prägte,  entstand im frühen Hochmittelalter im nahegelegnen, von Vetschau aus sichtbaren Kloster Rolduc. In Vetschau konnte er sich nicht lange halten.

 

Der dortigen Grube Carl-Friedrich in Richterich Grünenthal  war nämlich wenig Glück beschieden. Da sie von Anfang an eher schleppend lief, konnte sie das Dorf Vetschau nicht nachhaltig verändern. Außer ein paar eher bürgerlich anmutenden Gebäuden (Grünenthaler Straße und am Bahnübergang in Vetschau), einem stillgelegten Gleis und einigen Übertagebauten, in denen sich heute ein Gewerbegebiet befindet, hat sie nichts hinterlassen. Das landwirtschaftlich dörfliche Erscheinungsbild von Vetschau hat sie nicht zu verändern vermocht.

Gleichwohl haben nach dem Zweiten Weltkrieg gravierende Veränderungen stattgefunden. Während die geschichtsträchtigen Höfe bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts meist als Pachthöfe bewirtschaftet wurden, gelangten sie nach dem Krieg in Privatbesitz. Die Niersteiner Höfe, der große Hof an der Bocholtzer Straße und Gut Linde wurden von Landwirten übernommen, die nicht ursprünglich aus Vetschau stammten und die landwirtschaftliche Tradition nun als Eigentümer fortführ(t)en. Auch ein Teil der Wegekreuze wurde erst nach dem Krieg aufgestellt. Der Auto-bahnbau und die Trassenänderung der Laurensberger Straße, die die al-te von Laurensberg kommende Vetschauer Straße zur Sackgasse wer-den ließ, war ebenfalls einschneidend.

Südlicher Dorfeingang (Unterdorf) um 1907
Foto: R. Jecker

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hubert Rumpen mit Pfeife und Hund Bruno, daneben ein Unbekan-nter beim „Dämmer-schoppen“, gegenüber dem Haus Jecker unter dem Wegekreuz an der Stichstrasse zur Karl-Friedrich-Strasse. Da-mals befanden sich an dieser Stelle noch zwei kräftige Buchen, an die sich viele alte Vet-schauer noch gut erin-nern können.

Foto: J. Rumpen

 

 

 

 

Als der Wurmbergbau gegen Ende des 20. Jahrhunderts vollständig zum Erliegen kam, war er in Vetschau schon längst Geschichte. Hier vollzog sich ein anderer Strukturwandel: Aus der ehemaligen Korn- und Rüben-kammer entwickelte sich ein Schlaf-Vorort einer aufstrebenden Universi-täts- und Technologieregion.

 

 

 

 

 

Im Fördermaschinen-raum der Zeche Carl-Friedrich. Zwei Förder-maschinisten:  Wilhelm Rumpen und Theodor, Dures Strauch.
Foto: Jacob Rumpen

 

 

Im Norden des Dorfes entstand ein grenzüberschreitendes zukunftsträchtiges Technologiegebiet, dessen Name und möglicherweise auch Zukunft an ein sagenumwobenes, verschwundenes Eiland erinnert. Im Westen steht heute ein Windpark, der ein weit sichtbares Aushängeschild der High-Techregion- Aachen darstellt und für das Image der Exzellenz-Universität imagebildend ist.  Das alte Vetschau ist aber immer noch erkennbar.

 

 

 

Bocholtzer Straße, Dorfeingang aus Richtung Westen, im Vordergrund der große und der kleine Hof, im Hintergrund die alte Schmiede.
Foto: W. Kerres

 

 

Während die letzten Schweine gegen Ende des Jahrtausends Vetschau verließen, tragen die letzten Kühe und die inzwischen allerdings zahl-reichen Pferde das Bild der ländlichen Idylle. Wie die zahlreichen Wander- und Fahrradtouristen zeigen, hat Vetschau  einen Erholungswert. Zu diesem Wohlgefühl trägt auch die historische Bausubstanz des Ortes bei, die sich allerdings nicht allerorts in wünschenswertem Zustand  befindet. Manches Kleinod gilt es noch (wieder) zu entdecken; Manches ist in den letzten Jahren noch bis zur Unkenntlichkeit ummantelt worden oder gar unwiederbringlich verloren gegangen.

 

 

 

 

Ehemalige Gaststätte Bauer im verträumten Vetschau.
Foto: Fam. Coslar.

Bei allen Positiva gibt es aber auch Belege dafür, wie unbekannt und vergessen die Schönheit des von den Zeitläuften zwar berührten, aber wenig zerstörten Dorfes Vetschau immer noch in vielen Köpfen ist. Nur wenige Aachener wissen bis heute, wo Vetschau überhaupt liegt. 

Verräterisch, dass es in den 90er Jahren allenfalls als Standort für eine Kompostierungsanlage attraktiv schien.  Auch der sich schleppend ent-wickelnde Technologiepark „Avantis“ wurde von fortschrittlich denkenden Politikern, u.a. damit begründet, dass die angebliche Monokultur der Landwirte (deren Land sich weitgehend im Besitz der Stadt befindet) die-sen Landstrich zu einer „Agrarwüste“ verwandelt hätte, die nun ökono-misch und ökolgisch aufgewertet werden müsse. Aus einer anderen Wurzel stammte die „Hamsterposse“, die Einheimische manchmal als grotesk, bisweilen als Hoffnungsschimmer betrachteten. Wie notwendig   der Technologiepark und die Hamstergänge sind, kann man inzwischen jeden Abend bei voller Beleuchtung beobachten. Die inoffizielle „Renn-strecke Avantis“ hat schon tödliche Unfälle bei illegalen Autorennen gefordert, bevor ein einziger ökologischer Impuls diesem ehemaligen Ackergebiet entsprungen ist.

 

Kartenausschnitt: Landeskonservator Rhein-land, Denkmälerverzeichnis Aachen, Köln 1978.

 

 

Die Busverbindung und die städtische Anbindung werden hingegen noch immer zurückge-baut. Bevor der Naherholungs-wert und die Lebensqualität des Dorfes erkannt ist, wird es durch rücksichtlose Verkehrsführung vernachlässigt und bedroht. 

Die große Dichte der Baudenkmäler (rote und grüne Mar-kierungen auf der Karte)  beweist, dass es sich um ein ästhetisch und kulturgeschichtlich anspruchsvolles Ensemble handelt, das man unbedingt pflegen und erhalten sollte[7].

Es ist keinesfalls übertrieben, die Laurentius-Schützenbruderschaft Vetschau e.V. als älteste und beinahe einzige verbindende Dorfinitiative zu bezeichnen. Vetschau ist ein Dorf, das geprägt wird durch die Vielen, die es, mitunter als lästiges oder erholsames Nadelöhr,  durchqueren und die wenigen, die dort wohnen. Die Dorfgemeinschaft  sollte sich in Zukunft überlegen, wie das Verweilen (noch) attraktiver werden könnte. Auf einen Prinz zu warten, der das Dorf wach küsst, dürfte sich nicht lohnen.

In diesem Sinne will die vorliegende Festschrift helfen das Bewusstsein für den Wert und die Schönheiten Vetschaus zu wecken. Vieles gilt es (wieder) zu entdecken. Bei Um- und Neubaumaßnahmen sollte man sich auf den Wert und die Lebensqualität dieses uralten, gewachsenen Dor-fes erinnern und dieses entsprechend würdigen. 

 

Eingang von Gut Altepütz (abgerissen nach 1990),
Foto: Voncken

 

 

Es soll nicht alles auf alt oder Idylle „gequält“ werden, aber das noch Vorhandene sollte nicht weiterhin leichtfertig entfernt werden! Unser Dorf braucht keine neue Baumarkt-Offensive, sondern eine Rück-besinnung auf das ihm Eigentümliche. Alle Leser und Ein-wohner sind aufgerufen hierbei  zu helfen.

Neue alte Qualitäten könnten wiederbelebt werden: Pferde und Gespannfahren haben in Vetschau eine lange Tradition. Die Gebrüder Franz und Josef  Lausberg zeigen auf ihrem elterlichen Hof, dem großen Niersteiner Hof,  wie es geht.  Zu den Neuen Attraktionen, die indes nicht von allen Vetschauern geliebt werden, gehören die Windräder. Wie schön unser Dorf ist, zeigt ein Film des WDR[8].

 

 

 

 

 Foto: Lausberg, Euskirchen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Vgl. u.a. Jos. Liese, Heimatblätter des Landkreises Aachen 7 (1938), S. 8.

[2] Dieser Verdacht wurde geäußert von: H. Gross, Zur Geschichte des Aachener Reiches, in: Aus Aachens Vorzeit 5 (1892), S. 81-87.

[3] Paul Clemen, Heribert Reiners. Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz – Die Kunstdenkmäler der landkreise Aachen und Eupen, Düsseldorf 1912, S. 155.

[4] Die Abb. stammt aus dem o.g. Buch.

[5] Vgl. Peter Joh. Droste, Wasserbau und Wassermühlen an der mittleren Rur, Aachen, 2003, S. 174-176.

[6] Vgl dazu: Diethrich Lohrmann, Natürliche Ressourcen und wirtschaftliche Entwicklung der Reichsstadt Aachen im späten Mittelalter, ZAGV 98/99  (1992/93), S. 87-93.

[7] Neben dem Westwall (rote Linie) sind allein 3 Gebäude auf der Bocholtzer Straße (Nr.: 29,50, 58) und 12 Objekte auf der Laurenberger Straße ( Nr. 20, 21, 29, 53, 78, 81, 99, 103, 132, 140, 141, 143 als Denkmal eingetragen. Vgl. Landeskonservator Rheinland, Denkmälerverzeichnis 1.2. Aachen. Übrige Stadtteile, Stand 1978, Köln 1978.

[8] www.wdr.de/studio/aachen/serien/das_dorf/…/2008_06_19.xml, leider nicht mehr im Netz verfügbar (Stand Jun. 2010)